...in silva nostra, quae dicitur berinkart...    Die Entstehung der Bönninghardt

Der topologische Begriff „Bönninghardt" hat zwei Bedeutungen, nämlich die der zusammenhängenden, heute zur Gemeinde Alpen gehörenden Siedlung (im Volksmund die „Hei" genannt), sowie die des Höhenzuges, der sich vom Tüschenwald bei Sonsbeck-Labbeck bis zum Ostrand der Leucht, westlich von Kamp-Lintfort, erstreckt.

Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 1184, als der Erzbischof von Köln den Höfen zu Borth das Recht des Holzschlages und der Eichelmast im Walde Berenkard verlieh. Der Name veränderte sich über die Jahrhunderte; 1236 ist die Rede von Berinckart, 1293 von Berehart. Auf einer topografischen Karte von 1560 heißt es Buninckhartse Heyde.

Der Höhenzug, der im Bereich der heutigen Siedlung seine größte Höhe von rund 46 Metern erreicht, entstand durch die Arbeit ehemaliger Rheinarme in der Diluvialperiode, als verschiedene Arten von Erdreich aus unterschiedlichen Regionen des heutigen Europa durch die Wassermassen aufeinandergeschichtet wurden. In den Sandgruben (z. B. der Pauen-Sandkuhle, beim Issumer Kalksandsteinwerk, in der Grube nahe der heutigen Bönninghardter Autobahnauffahrt usw.) erkennt man diese wechselnden Erdschichten. Es sind zumeist Sand und Kies, vermischt mit Lehm, Ton und Löß. Die Zusammenstellung dieser Schichten bestimmte den Pflanzenwuchs. Auf der Hei gediehen daher Heidekraut und -gras sowie Ginster am besten, während in der Leucht bis heute Kiefern- und Laubwald vorherrschen. Jedoch gaben auch die Gletschermassen der Eiszeit dem Bönninghardter Höhenzug seine Gestalt, wie zahlreiche Findlinge beweisen; einer von ihnen steht heute an einer Kreuzung am Bierweg in der Leucht.

Aufgrund der Bodenverhältnisse lag der Grundwasserspiegel auf der Hei sehr tief, Oberflächengewässer gab es überhaupt nicht. Aus diesen Gründen diente die Bönninghardt, von einigen urzeitlichen Siedlungsspuren abgesehen, zunächst jahrhundertelang als Weideland.

 

Die Alpische Kuhweide

Vor rund zweihundertfünfzig Jahren war die Bönninghardt - von prähistorischen Ansiedlungen abgesehen - gänzlich unbesiedelt. Die Geschichte des späteren Flughafengeländes beginnt mit der sogenannten „Alpischen Kuhweide", die im August 1827 erstmals als solche bezeichnet wurde. Die Lage dieses Weidegebietes wird heute vom Wald westlich des Hoerstgener Weges im Westen, der Bönninghardter Straße im Norden, der Straße „Am Flughafen" im Osten sowie der Autobahn im Süden in etwa umrissen. Weite Teile der Heidelandschaft wurden als Kuhweide genutzt, und aus den umliegenden Orten wurden große Schaf- und Rinderherden auf die weite Ebene getrieben.

Während das Areal des späteren Start- und Landefeldes, das Jahrzehnte später aus der Weide entstand, heute zum größten Teil der Gemeinde Alpen und sonst der Gemeinde Issum gehört, waren es am 8. August 1827 die Gemeinden Alpen und Huck (heute Gemeindeteil von Alpen), die die 131 Morgen und 88 Ruten große Weidefläche für 1050 Taler an den Militärfiskus verkauften.

Hiermit fing die zweite Episode in der Nutzung der Alpischen Kuhweide an, nämlich als Exerzierplatz und Pferdesportplatz. Rund sieben Jahrzehnte zuvor bereits hatte jedoch die planmäßige und dauerhafte Besiedlung der Hei begonnen. Zum Zeitpunkt des Verkaufs der Kuhweide lebten bereits sechsundsiebzig Kolonisten in Bönninghardt.

 

Erste Besiedlung

Eine konsequente, zusammenhängende Besiedlung der Hei setzte zwar erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, jedoch sind zu Anfang des 20. Jahrhunderts archäologische Erkenntnisse über eine vorgeschichtliche Anwesenheit von Menschen in dieser Region gewonnen worden. So wurde seinerzeit in der Leucht, zu beiden Seiten des Strohweges sowie am Westrand dieses Waldgebietes, durch den Wissenschaftler Dr. Stampfuß eine erhebliche Anzahl Urnen- und Hügelgräber freigelegt. Ob auf oder nahe dem Plateau des Bönninghardter Höhenzuges nicht nur Begräbnisse stattfanden, sondern auch gewohnt und gelebt wurde, läßt sich bis heute nur vermuten. Eine natürliche Zisterne, die sich nahe dem Hof „Pötters" befand, kann noch als plausibelster Hinweis darauf gewertet werden.

Links: Brunnen vor "Haus Pötters", möglicherweise Standort der ersten Zisterne auf der Bönninghardt; rechts: eins der Hügelgräber in der Leucht, nur schwer hinter Strauchwerk zu erkennen.

 

Die eigentliche Siedlungsgeschichte des heutigen Dorfes Bönninghardt begann zwischen 1750 und 1760, eine erste, offizielle statistische Erwähnung der Kolonisten findet sich indes erst im Jahr 1772.

Aus der Zeit der ersten Kolonien haben sich bis heute solche Namen wie Hoffmanns Kolonie (nordöstlich des Haagschen Berges), Alte Börry (im östlichen Viertel des Dorfes) sowie Kiwitts Kolonie (Südteil der Handelsstraße, auf Issumer Gebiet) und van Treeks Kolonie (am Westrand des Dorfes) erhalten.

Der Obrigkeit waren diese ersten Ansiedlungen durchaus willkommen. Zuvor hatten etliche Räuber- und Schmugglerbanden, die z. T. bis aus dem Augsburger Raum stammten, immer wieder Unterschlupf und Zuflucht auf der „Hei" genommen. Auch nach Ansiedlung der ersten Heidekolonisten wurde diese Praxis noch einige Jahrzehnte beibehalten, nicht nur durch den legendären Wilhelm Brinkhoff, von dem im folgenden noch die Rede sein wird.

Obwohl die Rahmenbedingungen zum Seßhaftwerden recht günstig waren, verlief der Alltag der Siedler in Armut. Gelebt wurde von und in dem, was man vorfand. Die Häuser, sog. Plaggenhütten, waren aus einem einfachen Gerüst von Baumstämmen, mit Grassoden gefüllt und abgedichtet, gefertigt. Mensch und Tier lebten oft in einem einzigen Raum, der von innen mit Lehm verputzt und weiß gekälkt war. Diese sehr einfache Wohnkultur wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig überwunden.

Auch in der Ernährung war man auf die Gaben der Natur angewiesen, jedoch dürfte z. B. ein Kaninchen den Speiseplan nicht allzu oft bereichert haben. Der karge Boden war bis zur Einführung des Kunstdüngers für den Anbau von Feldfrüchten nur gering geeignet.

Verständlich ist, daß Teile der Bevölkerung angesichts der schier aussichtslosen materiellen Lage dem Hexenwahn verfielen, der in mindestens einem dokumentierten Fall von einem Labbecker Tagelöhner schamlos ausgenutzt wurde:

Ab 1847 stellten die ersten Regierungsbrunnen die Wasserversorgung auf der Hei sicher. Überhaupt kamen von öffentlicher Seite zusehends Hilfen, nicht zuletzt im Schulwesen, um den Kolonisten ein Leben unter den damals bekannten Umständen zu ermöglichen.

Der Issumer Beamte Blass gehörte zu den Mitbegründern eines Vereins zur wirtschaftlich-sozialen Förderung der Kolonisten.

 

Besenbinder bei der Arbeit. Das Verkaufsgebiet erstreckte sich bis Duisburg bzw. Krefeld und wurde zu Fuß bereist - mit der Schubkarre vorneweg (s. unten).

Hauptunterhaltsmöglichkeit blieb jedoch bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts neben der Landwirtschaft das Besenbinden. Das in Bönninghardt reichlich vorhandene Heidekraut wurde abgeerntet und getrocknet, dann mit einer von Hand zu bedienenden Maschine mit Draht umwickelt und auf eine bestimmte Länge zugeschnitten. Nach dem Trocknen und Ausschlagen konnte das Bündel dann auf den Stiel gezogen werden. Zumeist zu Fuß mit der Schubkarre unterwegs, zogen die Besenbinder über das Land, um ihre Produkte in den Haushalten und Gehöften anzubieten. Der letzte Besenbinder stellte erst zu Anfang der 1960er Jahre seine Tätigkeit ein. Dem einfachen und traditionsreichen, für Bönninghardt typischen Handwerk ist heute mit den Straßenbezeichnungen Ginsterweg, Heideweg und insbesondere Besenbinderweg (nordwestlich des Rollfeldes) die gebührende Erinnerung gesichert, dem Besenbinder „Blumme Fritz" Kemken wurde im Jahr 2002 ein Denkmal gesetzt.

Einen bedeutenden Schub für Wirtschaft und Wohlstand auf der Hei gab die Einrichtung des Bahnhofs 1885. Das Teilstück der Venlo-Hamburger Eisenbahn zwischen Venlo und Wesel war zwar schon im Dezember 1874 in Betrieb genommen worden, jedoch bedurfte es jahrelanger Anfragen und Proteste, bis die Haltestelle Bönninghardt eingerichtet wurde. Geschlagenes und zugeschnittenes Stammholz aus dem Forst Solvay konnte nun vor Ort verladen werden und brachte gutes Geld. Die Stellen des Bahnhofspersonals warfen ein paar qualifizierte Arbeitsplätze ab, von denen einige durch Bönninghardter besetzt wurden. Später wurde offenbar festgestellt, daß der Bahnbetrieb sich wirtschaftlich nicht rechnete, auch wenn das Dorf Bönninghardt sehr wohl von der Existenz des Bahnhofs profitierte. Das Teilstück von Venlo über Straelen zum Köln-Mindener Bahnhof in Geldern war bereits 1936 stillgelegt worden.

Der Bahnhofsbetrieb brachte nicht nur einige Arbeitsplätze im administrativen Bereich,

auch konnte Nutzholz zu weiter entfernten Orten transportiert und damit in größerem Umfang produziert werden.

Soweit zur „guten, alten" Zeit und zur Vorgeschichte eines Dorfes, in welchem vor dem zweiten Weltkrieg militärische High-Tech Einzug hielt. Die selbständige Berufsausübung im landwirtschaftlichen bzw. naturnahen Bereich blieb jedoch für die Bönninghardter lange Zeit traditionell. Die Existenzumstände und die daraus entstandene Geisteshaltung der Besenbinder haben insofern zum Selbstverständnis einer ganzen Dorfgemeinschaft beigetragen.

Auch dieser Betrieb sorgte über sechs Jahrzehnte für Arbeit in Bönninghardt.

Schon bald nach der Gründung der Interessengemeinschaft für Geschichte und Natur Bönninghardt e. V. im Jahr 1991 faßte man eine dokumentarische Wiederbelebung der bescheidenen Wohnkultur der Vorfahren ins Auge. Anfang 2002 wurde eine erste Miniatur-Plaggenhütte errichtet, selbstverständlich unter Verwendung authentischer Baumaterialien. Kurze Zeit später fanden sich mehrere Vereinsmitglieder zusammen, um die Behausung von Agnes Schröder aus dem Jahre 1896 möglichst originalgetreu nachzubauen. Öffentliche Fördermittel wurden zur Verwirklichung dieses Projekts bewilligt. Auch die Inkompatibilität mit geltendem Bauordnungsrecht konnte den Fortgang der Bauarbeiten nicht aufhalten. Das Richtfest fand am 24. Mai 2003 unter Teilnahme der Öffentlichkeit und der lokalen Presse statt. Ein Feuer, welchem die Hütte am 18. Februar 2005 zum Opfer fiel, beeindruckte die "Heier" nicht sehr. Acht Wochen später stand sie wieder da wie neu. Die Plaggenhütte soll der Nachwelt, insbesondere Schulklassen, die äußerst bescheidene Wohnkultur der Bönninghardter Ureinwohner konkret und vor Ort erfaßbar und erlebbar machen.

Nachbau einer Plaggenhütte am Heideweg, Bönninghardt

 

Bönninghardter Originale

Anhand bedeutender oder prominenter Persönlichkeiten einer Region oder eines Ortes läßt sich die kulturelle, wirtschaftliche oder auch die soziale Situation ihres Umfeldes zu ihren Lebenszeiten wohl am anschaulichsten verdeutlichen. Wie bereits ausgeführt, waren die ersten Bewohner der Bönninghardt Siedler aus der Gegend des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz, die nicht über die Mittel zur Überfahrt nach Nordamerika verfügten und denen ebensowenig noch ein Grundstück in den bereits existierenden pfälzischen Neuansiedlungen Louisendorf und Pfalzdorf zugewiesen werden konnte. Die Heidelandschaft bot naturgemäß nur äußerst bescheidene Möglichkeiten zum Bestreiten eines zufriedenstellenden Lebensunterhaltes. So verwundert es kaum, daß sich Armut und infolgedessen eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesetz ausbreiteten. Die erste öffentliche Instanz, die vor Ort war und sich dieses Problems annahm, war indes nicht die Polizei, sondern die Kirche. Später traten auch Schule und Bürgermeisteramt auf den Plan. Daher sollen hier ein Geistlicher und ein Krimineller als bekannte Persönlichkeiten der Bönninghardt vorgestellt werden:

Pfarrer Johannes Sanders

Peter Johannes Sanders wurde am 1. Dezember 1854 in Geldern als Sohn eines Handwerkers geboren. Seine erste Berührung mit der Bönninghardt hatte er um 1870 als junger Lateinschüler während einer Ferienwanderung. Er vernarrte sich bei dieser Gelegenheit in Landschaft und Ort und nahm sich vor, dort irgendwann sein Leben als Pfarrer verbringen zu wollen. Bevor es tatsächlich dazu kam, verbrachte er als junger Kleriker während des Kulturkampfes einige Jahre im Exil in Brixen, Tirol. Im Alter von vierundzwanzig Jahren wurde er zum Priester geweiht. Im Jahr 1900 wurde der Wunsch des „Kleinen Jan", wie er im Volksmund genannt wurde, erfüllt: Ihm wurde die Stelle des Bönninghardter Pfarr-Rektorates übertragen, das bald darauf zur selbständigen Pfarre erhoben wurde. Dieses Amt sollte er sechsunddreißig Jahre bis zu seinem Tod bekleiden. Die katholische Kirchengemeinde der Bönninghardt verdankt ihm neben der Errichtung des Pfarrhauses auch die wertvolle künstlerische Ausstattung der Kirche. Unter seiner Ägide blieb das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen vor Ort entspannt: Anläßlich seines goldenen Priesterjubiläums im Juli 1929 stellten Katholiken und Protestanten einmütig einen Geldbetrag zur Verfügung, von dem auf Wunsch Sanders´ die Gedächtniskapelle für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges gebaut werden konnte.

Pfarrer Sanders war bald über die Grenzen des Niederrheins hinaus bekannt für seine Schlagfertigkeit und Gastfreundlichkeit und legte mehr Wert auf die inneren Werte des Einzelnen als auf dessen Gesangbuch. Die folgende Geschichte, die stellvertretend für viele stehen soll, verdeutlicht diese Haltung:

Eines Sonntags wollte der „Herrohme" (ländliche Anrede für Herr Pfarrer oder Hochwürden) die Namen der Verstorbenen der Gemeinde vorlesen, für die gebetet werden sollte. Nachdem einige Namen genannt worden waren, begann es in der Kirche unruhig zu werden. Die älteren Leute sahen sich verwundert an, die jüngeren unterdrückten ihr Lachen, denn alle „Verstorbenen" saßen leibhaftig auf ihren gewohnten Plätzen in der Kirche. „Podomi", rief dann der Pfarrer, nachdem er den „Irrtum" bemerkt hatte, „ich habe doch tatsächlich das falsche Buch genommen! Das waren ja die Leute, die die Kirchensteuer noch nicht bezahlt haben!"

Pfarrer Sanders starb in der Weihnachtsnacht des Jahres 1936 und fand seine letzte Ruhestätte in Straelen. Er ahnte in seinen letzten Lebensmonaten wohl nicht, welche Ereignisse von der großen Weide am anderen Ende des Ortes bald ausgehen würden. Nach ihm wurde die Straße benannt, die von der katholischen Kirche her am Sportplatz vorbeiführt.

 

Wilhelm Brinkhoff

wurde am 15. März 1839 in Alpen geboren und stammte aus soliden sozialen Verhältnissen. Sein späterer Lebenslauf, bei dem sich Gesetzesuntreue, Gewalt, Freigiebigkeit und Flucht in loser Folge abwechselten, war ihm durchaus nicht in die Wiege gelegt worden. Gerade schulpflichtig geworden, begann er seine kriminelle Karriere, indem er die Kommode seiner Großmutter aufbrach, um fünfzehn Silbergroschen zu erbeuten.

Nach der Schulentlassung begann er eine Lehre als Tischler. An regelmäßiger Arbeit fand er jedoch keinen Gefallen, eher am Umgang mit dubioser Gesellschaft. Folgerichtig sah er mit achtzehn Jahren ein Gefängnis das erste Mal von innen, nachdem er am Assisenhof in Kleve zu vier Jahren Gefängnis wegen schweren Einbruchdiebstahls verurteilt worden war. Er brach jedoch schon bald aus und verschwand in die USA.

In der Neuen Welt kam er schnell zu Wohlstand und heiratete Caroline Ernst, Tochter eines württembergischen Schuhmachers. Die erst siebzehnjährige Caroline verspürte jedoch bald Heimweh, so kehrten beide in ihre Heimatstadt Sieglingen zurück. Dort spielte sich Brinkhoff als Auswärtiger, der eine sehr junge Tochter der Stadt ehelichen konnte, als freigiebiger Mann von Welt auf. Bald war das Vermögen aufgebraucht, und das junge Paar zog nach Alpen, ins Haus seiner Eltern. Auch in Alpen trat er aggressiv und großspurig auf; bei Wirtshausbesuchen legte er zur Abschreckung des öfteren einen geladenen Revolver auf den Tisch. Dieses Benehmen wurde bald dem Landrat des Kreises Moers zugetragen, der eines Nachts das Elternhaus umstellen und durchsuchen ließ. Brinkhoff gelang es jedoch, in der allgemeinen Verwirrung und der Dunkelheit in das Waldgebiet der Leucht zu entkommen, wo er sich in einer Hütte (der Bremerskate) versteckte. Am nächsten Morgen entdeckte ihn jedoch eine Polizeistreife. Auf der Flucht erschoß Brinkhoff den Polizeibeamten Murrmann aus Camp, der ihn beinahe gefaßt hätte, nachdem er selbst in der Kiesgrube nahe dem Baerlagshof einen Schuß in den Fuß erhalten hatte. Er kehrte dann in die Waldhütte zurück, um sich von Caroline verbinden zu lassen. Bald wurden sie von der Polizei im Baerlagshof aufgefunden. Brinkhoff wurde verhaftet, der Hoferbe Tilmann Feltens mußte ihn auf Anordnung der Gendarmerie mit dem eigenen Fuhrwerk nach Alpen bringen. Die Reise ging dann weiter zur Zitadelle in Wesel und schließlich zur Klever Schwanenburg.

Nach zwölf Tagen, ausgerechnet in der Weihnachtsnacht, gelang ihm die erneute Flucht. Bei den Besenbindern der Bönninghardt fand der mittlerweile legendäre „Outlaw" zumeist mehr oder weniger bereitwilligen Unterschlupf. Bei Gefahr gab man ihm Hinweise und Warnzeichen. So konnte ihn auch ein großes Militäraufgebot aus Wesel zunächst nicht fassen. Ein Verrat besiegelte dann doch - vorläufig - das Schicksal Brinkhoffs. Als er zum Haftantritt nach Wesel verbracht wurde, drängten sich die Menschen in den Straßen, um einen Blick auf den „Räuberhauptmann" zu erhaschen. Später wurde er wieder nach Kleve und schließlich nach Essen-Werden überführt.

Von dort gelang ihm die letzte abenteuerliche Flucht, nachdem er die Scharniere der Zellentür durchfeilt und aus Garnresten ein Seil angefertigt hatte. Der Oberprokurator von Kleve erhielt bald darauf eine Postkarte aus den USA, die von Brinkhoffs glücklicher Ankunft kündete. Seitdem hat man nichts mehr vom „Rinaldini" oder auch „Schinderhannes vom Niederrhein" gehört. Vermutlich ist er dort schon bald selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen, sein Grab ist bis heute nicht bekannt.

 

 

1913: Die erste Berührung der „Hei" mit der Luftfahrt

Mehr als ein Jahr vor dem ersten Weltkrieg, am 30. April 1913, landete das erste Flugzeug in Bönninghardt. Per Bahn traten der Flieger Marty sowie sein Fluggerät die Heimreise in Richtung Frankreich an.

Genau fünf Wochen später (4. Juni) besuchte Kaiser Wilhelm II. das nahegelegene Geldern. Wohl niemand ahnte in diesem friedlichen, idyllischen Jahr, daß der französische Gast und das Fluggerät, welches ihm einen unfreiwilligen, aber vielbeachteten Aufenthalt fern der Heimat bescherte, bald in den Krieg ziehen würden. Erst recht konnte sich wohl niemand vorstellen, daß infolge dieses Krieges rund zwanzig Jahre später erneut eine noch längere und blutigere Auseinandersetzung losbrechen würde, in der die Alpische Kuhweide zeitweise eine ausschlaggebende Rolle spielen sollte.

 

Der Exerzierplatz

Nach Abwicklung des Kaufvertrages und Zahlung eines Kaufpreises von eintausendfünfzig Talern fand die Kuhweide zunächst Verwendung als Exerzierplatz des 17. Kavallerie-Landwehr-Regiments. Auch die anderen, zumeist berittenen Landheeresverbände, insbesondere aus der nahen Garnisonstadt Wesel, nutzen die großzügige, zusammenhängende Fläche für ihre Exerzierübungen und Manöver. Zum Abschluß dieser Übungen fand stets ein Manöverball im Saal der Gaststätte Passens-Thiesen, gegenüber vom Bahnhof, statt.

Es dauerte wohl nicht lange, bis die Pferde nicht nur zu militärischen, sondern auch zu sportlichen Übungen herangezogen wurden. Die „Kölnische Zeitung" vom 8. Oktober 1912 berichtete damals:

„Gegenwärtig finden hier jährlich mit der Spellener-Heide wechselnd Pferderennen statt."

Mit dem Pferdesport hatte damit die dritte Episode in der Geschichte der alten Kuhweide begonnen. Sie sollte mit dem Auftauchen der Militärfliegerei enden, um nach dem Zweiten Weltkrieg eine kurze Renaissance zu erleben.

Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg fand der Exerzierplatz zunächst seine ursprüngliche Verwendung, jetzt allerdings durch die belgischen Besatzungstruppen (u. a. aus Issum), die nach Kriegsende bis 1926 im Rheinland stationiert waren. Offenbar benutzten die Belgier den Platz nicht bis zum Ende der Besatzungszeit, denn in diesem Jahr traten zwei private Pächter auf den Plan, die bald darauf hier seßhaft wurden und der reitsportlichen Geschichte auf der Bönninghardt und am Niederrhein eine kurze, glänzende Epoche bescherten.

 

Der Bandolahof

Der heutige Betriebshof des Gartenbauamtes des Kreises Wesel wurde ca. 1928 als Bauernhof durch die Brüder Baumgärtner vom Franzissenhof, Menzelerheide errichtet. Benannt wurde dieser Hof nach einem 1922 geborenen, in ganz Deutschland sehr erfolgreichen Pferd, in etwa vergleichbar mit der noch heute bekannten "Halla" von Hans-Günter Winkler. Auf dem Bandolahof untergebracht war die Vollblutstute aber offenbar nie. Noch heute zeugt auf einem Hof in Birten ein Standbild mit Ehrentafel von ihren Erfolgen.

Standbild und Ehrentafel des Springpferdes Bandola auf einem Hof in Xanten-Birten

Bis zum Auftauchen der Luftwaffe wurde die Alpische Kuhweide regelmäßig als Terrain für den Reitsport genutzt, für den 30. Mai 1937 ist ein Vereinsturnier "auf dem Alten Exerzierplatz" überliefert. Nach dem Krieg lebte der Reitsport an dieser Stelle wieder für einige Jahre auf (s. 1945 - heute)

Mit Eintreten der militärischen Nutzung mußten Zivilpersonen das Gebäude verlassen, und als erster zog der „Platzlandwirt" ein. Er war zuständig für die Bewirtschaftung der Wiesen- und Ackerflächen, die einerseits für den Start- und Landebetrieb der Flugzeuge geeignet sein mußten und andererseits aus der Luft wie gewöhnliche Flächen für die Landwirtschaft aussehen sollten.

Auch die Kommandantur, die eigentliche Hauptverwaltung des Flugplatzes, war im Bandolahof untergebracht. Kommandant war Oberstleutnant Beyer. Zumindest zeitweise war auch ein stellvertretender Kommandant vor Ort, ebenso eine Sekretärin (Erna Büskens, Issum) und ein Flugwetterdienst unter Ing. Brodde.

Nach Kriegsende verbrachte Kurt Beyer eine Zeit im Kriegsgefangenenlager Rheinberg-Annaberg und kehrte dann zu seiner Familie nach Bönninghardt zurück, um eine Existenz als Landwirt zu begründen. Er verstarb 1964.

Aufnahme vom Februar 1945: Rechts oben der Bandolahof, zu Kriegszeiten baulich mit der heutigen Werkstatt verbunden. Der gelb punktierte Bereich existierte sehr wahrscheinlich nur während der militärischen Nutzung des Komplexes. Links unten die Hauptwache mit Bunker (rechts daneben). Unter dem Bandolahof erkennt man noch die Grundmauern des Sanitätsbereichs. Die regelmäßig angeordneten Löcher sind Einmannlöcher, die gegen Kriegsende häufig benutzt werden mußten. In der Mitte oben eine Splitterschutzbox für zwei Flugzeuge.

Der nach dem Krieg abgerissene Trakt des Hofes (gelbe Punktlinie) beherbergte (u. a.?) eine Kantine. Auch nach dem Tod von Herrn Beyer blieben private Pächter als Landwirte auf dem Hof tätig, bis das Gebäude durch den Kreis Wesel zum Betriebshof des Gartenbauamtes umfunktioniert wurde.

Eine Originalaufnahme der Südseite von Werkstatthangar (links) und Bandolahof aus dem Spätsommer 1943. Zwischen den beiden großen Komplexen erkennt man über der rechten Tragfläche ein flacheres Gebäude, auf dessen Stelle heute z. T. Garagen stehen.

 

Die Hauptwache

Zur Hauptgruppe der Standortgebäude zählte neben der Kommandantur die Hauptwache, die heutige Gaststätte Tannenhaus. Im westlichen Teil des Hauses war die Funkstation untergebracht, im östlichen Teil (heute Schankraum) das Wachlokal. Der dickwandig ausgebaute Keller konnte unter anderem auch als Arrestlokal genutzt werden, allein in der zweiten Hälfte 1944 verbrachten mindestens vier kriegsgefangene alliierte Piloten dort einen kurzen Aufenthalt, bevor sie weitergeleitet wurden.

Nach Kriegsende blieb dieses Gebäude als einziges Standortgebäude neben dem Bandolahof erhalten, da beide bereits vor der Begründung des Luftwaffenstandorts als Privatbesitz existiert hatten. Schon bald traten zivile Bewohner auf den Plan, die sich in der Trümmerlandschaft beim ehemaligen Flugfeld den damals raren und kostbaren Wohnraum zu schaffen suchten. Frau Marianne van den Berg, bald darauf Wirtin des Tannenhauses, erinnerte sich 2003:

„Das Umfeld um die alte Hauptwache und den Bandolahof war von Trümmern der Sprengungen und defektem Militärgerät übersät. Mauerwerk und Betonbrocken sowie alte Tarnnetze lagen umher, auch ein Flugzeugwrack stand noch hinter dem Bandolahof. Die Hauptwache hatte in den letzten Kriegstagen wenig alliierten Beschuß erhalten, nur ein größeres Loch „zierte" das Mauerwerk. Das Gebäude verfügte über Wasserleitungen und eine unterirdische Stromzuleitung. Strom und Wasser wurden erst Jahre später in den anderen Häusern im Dorf üblich. Der Keller war bunkerähnlich ausgebaut und wies schwere Betonwandungen auf, deren Wandstärke bis heute an der Erdoberfläche sichtbar ist. Ein weiterer bunkerähnlicher Keller fand sich ein Stück südwestlich des Gebäudes."

 

Der Sportflugplatz, Tätigkeit des NSFK (Nationalsozialistisches Fliegerkorps)

Durch den Vertrag von Versailles vom 28. Juni 1919 wurde dem deutschen Staat die Lufthoheit genommen. Die noch existierenden Militär- und Privatflugzeuge mußten zerstört bzw. abgegeben werden, die Herstellung wurde verboten. Größere Flugzeugkonstrukteure, z. B. Dornier, wichen ins Ausland aus, viele kleinere, wie der berühmte Jagd- und spätere Kunstflieger Ernst Udet, umgingen die alliierten Restriktionen gar innerhalb Deutschlands. Eine zivilfliegerische Ausbildung durfte erstmals 1923 mit der Sportflug GmbH, welche Unterstützung von der Reichswehr erhielt, wieder aufgenommen werden. Ein erster Kern der später zu bildenden neuen deutschen Luftwaffe wurde in den zwanziger Jahren im russischen Lipezka (!) sowie in Grottaglie/Italien ausgebildet.

Insbesondere ab 1935 wurde der Aufbau der deutschen Luftwaffe intensiviert. Das hohe öffentliche Interesse, welches die Luftfahrt damals in der Öffentlichkeit und insbesondere bei der Jugend genoß, fand in zahlreichen Flugtagen seinen Niederschlag, zum Beispiel beim Deutschlandflug 1938.

Der Deutschlandflug 1938 ist bis heute mit über vierhundert teilnehmenden Maschinen das größte Ereignis in der Geschichte der deutschen Sportfliegerei. Der Flugplatz Bönninghardt bildete einen Kontrollpunkt in der Streckenführung. Die Besatzungen hatten auf der Hei zehn Minuten Zeit für Landung, Eintrag ins Flugbuch und erneuten Start.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Die Luftfahrtindustrie befand sich seit ca. 1936 in einem deutlichen Aufschwung, die höchsten Gewinne wurden bald darauf jedoch nicht in der Zivilluftfahrtproduktion erzielt. Auch die Werbung trug später diesem Umstand Rechnung.

Hinter diesen Veranstaltungen standen längst schon militärische und staatliche Organisatoren, die Görings Motto „das deutsche Volk muß ein Volk von Fliegern werden" kolportierten. Die Partei, deren Ideologie revisionistische Kriegspläne umfaßte, brauchte künftig auch eine große Anzahl von Piloten. Die jungen Aspiranten für diesen Beruf fanden sich zuhauf im begeisterten Publikum der Flugvorführungen, auch in Bönninghardt.

Bereits am 24. Februar 1938 war in Issum-Hochwald eine zweimotorige deutsche Maschine eines Lehrgeschwaders aus Greifswald aus ungeklärten Gründen abgestürzt. Eins der drei Besatzungsmitglieder verunglückte tödlich.

Am 2. Juni 1939 verkündete die Westdeutsche Zeitung, daß in Bönninghardt am Vortag der Segelflugplatz des Nationalsozialistischen Fliegerkorps Gruppe Niederrhein seiner Bestimmung übergeben worden sei.

Segelflugbetrieb mit SG 38 "Schädelspalter" auf der Hei im Sommer 1937. Rechts am Horizont erkennt man den Hangar sowie den Bandolahof, links davon den Schornstein der Dachpappenfabrik.

Einige Wochen zuvor waren jedoch bereits Militärflugzeuge auf der Hei gelandet:

Diese Aufnahme mit besonders markierten Maschinen des JG 26 entstand bei einem Manöver, angeblich im August 1939. Manöver des JG 26 sind jedoch lediglich für Mai 1939 überliefert.

Am 19./20. Mai 1939 traf die II./JG 26 zu einer Verlegeübung ein, zum ersten Mal wurde ein militärischer Ernstfall geprobt. Um Personal und Material dieser Einheit unterzubringen, mußten öffentliche Gebäude sowie (insbesondere bei späteren Stationierungen) Privat-quartiere herangezogen werden. Insbesondere beim Westfeldzug wurden Zelte und Feldhäuser für die Unterbringung eingesetzt, feste Gebäude wurden in geringem Umfang erst 1941 oder gar 1944 errichtet. In Josef Prillers "Geschichte des Jagdgeschwaders 26" hatte die Verlegeübung noch einen friedlichen, volksfestähnlichen Charakter.

Links: Albert Leo Schlageter, Zugführer einer Artillerieeinheit im Ersten Weltkrieg. Wegen eines gegen die Besatzungstruppen gerichteten Sabotageaktes auf eine Bahnlinie wurde er in den zwanziger Jahren verurteilt und hingerichtet. Von der NSDAP als Märtyrer hochstilisiert, erhielt das JG 26 seinen Namen.

Rechts: Heinz Lange, JG 26, war einer der ersten Militärpiloten in Bönninghardt (I./JG 132, Mai 1939).

 

 

 

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